... Fortsetzung Folge 4 - Kunst und Klassenkampf

Hans Magnus Enzensberger
Hans Magnus Enzensberger

"das ist ja nichts Schlimmes, Gedichte zu schreiben"
"Was mich an der Literatur jenseits aller Ideologie einfach stört, wissen Sie, so an den Fingerspitzen stört, das ist, ich find es einfach so ein bißchen langweilig, immer von den eigenen Geschichten zu handeln. Diese eigenen Geschichten, die geben einen Entwicklungsroman her, den ich glücklicherweise nicht geschrieben hab: Im übrigen interessiert mich mehr, was ich noch nicht weiß."

Literatur sollte am besten nicht mehr von eigenen Geschichten handeln, wovon dann?
Von den Geschichten anderer, draußen, dort, wo das wirkliche Leben stattfindet?

Walser (Archiv): "Ich hab' vom Enzensberger ein Manuskript bekommen, das er aus Kuba mitgebracht hat, das heißt 'Das Verhör von Habana'. Da wurden ja damals nach dieser amerikanischen Invasion, haben sie Invasoren öffentlich auf einem Platz in Kuba, in Havanna, haben sie sie verhört und das wurde aufgezeichnet, Tonband, und das sind viele, viele Bände Akten, und daraus hat Enzensberger, glaub ich 15 oder 20 Verhörte exzerpiert und hat diesen Dialog der Verhörenden mit den Verhörten, hat er hier übersetzt ins Deutsche."

Enzensberger: "In der Substanz handelt es sich dabei um das Selbstportrait einer Klassengesellschaft. Noch genauer gesagt um das Selbstportrait einer herrschenden Klasse, die geschlagen worden ist. Und gerade der Umstand, daß sie geschlagen worden ist, erlaubt eben, sie ins Gebet zu nehmen, sie ins Verhör zu nehmen, sie auszufragen, sie zu einer Selbstdarstellung zu zwingen, und das ist, was in diesem Buch passiert." Verhör von Habana Verhör von Habana

Protokoll als Literatur. Und wieder das Protokoll eines Prozesses. Diesmal über den Klassenfeind.

Sah so der Klassenfeind aus?

Rüdiger Safranski
Rüdiger Safranski

"Was nützt ein Hölderlingedicht?"
"Es gab in der 68er Bewegung eine Tendenz, über die lohnt sich, doch noch mal hinterher nachzudenken, und das war, daß wir damals ausriefen: Tod der Literatur!, daß wir damals Konzerte gestört haben, immer so mit diesem Gedanken: Ja, wenn in Vietnam getötet wird, wenn überhaupt die Welt so im Argen liegt, es so viele Ungerechtigkeiten gibt, so viele schlimme Dinge, und wir hier im Luxus, wir können luxurierende Kunst betreiben, ist das nicht ein Skandal? Dort wird gestorben, hier wird Kunst gemacht.
Es gab also, das ist das Interessante, es gab also eine Verfeindung mit der Kultur aus einem Gefühl der Gerechtigkeit heraus. Also dieser Zusammenhang, ich selber habe ja Philosophie und Literatur studiert, und ich weiß noch genau wie so diese Stimmung damals war. Der Ausdruck war 'abgehoben', 'das ist doch abgehoben', oder 'Was nützt das denn, sich jetzt hier in die Subtilitäten von Kant zu vertiefen?', 'Was nützt ein Hölderlingedicht?'"

Was nützt ein Gedicht im Klassenkampf? Ist es nicht vielleicht sogar schädlich? Antwort des Dichters 1970:

Enzensberger: "Ach, das will ich nicht behaupten, ich bin da gar nicht dogmatisch, das ist ja nichts Schlimmes, Gedichte zu schreiben, das ist so eine Gewohnheit, eine gute oder schlechte Gewohnheit, warum soll man sich alle seine Gewohnheiten abgewöhnen, das tut ja niemandem weh. Nur eine Rolle sehe ich darin nicht. Eine gesellschaftliche Rolle sehe ich darin nicht, daß jemand Gedichte schreibt, das kann er tun oder bleiben lassen. Das ist nichts Schlimmes."

Onanieren verursacht keinen Rückenmarkskrebs.
Was aber soll aus dem Schriftsteller werden? Protokollant von Prozessen? Das ist doch keine Zukunft! Womit kann er sich überhaupt noch nützlich machen?


Walser (Archiv): "Es ist sehr schwierig, sich den Schriftsteller bei diesem kommenden Prozeß, denn daß die Geschichte nicht stehenbleiben wird, kann man fast, nach allem was man aus drei-, vier-, fünftausend Jahren weiß, kann man annehmen, es ist aber die Frage, ob der Schriftsteller den nächsten Stand auch mit heraufbegleiten wird, ob er, was man heute Arbeitnehmer nennt, ob er für die Etablierung der nächsten historischen Situation notwendig ist."
"der blindeste Text, den ich von mir kenne"
Martin Walser sah für den bürgerlichen Schriftsteller im heranbrechenden Sozialismus keine Perspektive mehr. Nur noch die Arbeitslosigkeit.

"Wir und die bürgerliche Literatur, wir sind eigentlich, wir stehen hier auf Abruf..."
Walser (heute): "Also ich muß auch sagen, das ist so, für mich der blindeste Text, den Sie da ..., den ich von mir kenne, weil, die Hoffnung, daß das nicht so sei, war doch jeden Tag gegenwärtig."

"Ich glaube, daß unsere akademische oder bürgerliche Literatur heute nicht mehr adäquat zu der gesellschaftlichen Entwicklung steht. Es ist ein Urübel der deutschen Literatur, daß man in Schönheit stirbt, und was bewirke ich damit? Gar nichts bewirke ich damit. Ein paar Studienräte machen sich da Lehrstunden draus die sie ihren Unterprimanern und Oberprimanern vorlesen und dann ist es Kunst, und was bewirkt es? Gar nichts bewirkt es. Ich als Schriftsteller steh auf dem Standpunkt, daß ich etwas zu sagen habe, und ich muß etwas bewirken, ich will etwas verändern."

"Tja, warum bin ich eigentlich noch hier? Ich könnt doch überall wohnen. Als ausgerechnet in diesem verdammten Ruhrgebiet, immer Dreck, Staub, Qualm, trotzdem ist man hier, fühlt sich wohl. Von überall kommen sie her, schimpfen auf das Ruhrgebiet, wegziehen tun sie doch nicht. Nach 'ner gewissen Zeit fühlen sich alle wohl, bleiben alle hier und ich auch. Irgendwas hat das Ruhrgebiet an sich, das die Menschen anlockt und jeder kommt und sagt: 'Ich bleib nur ein, zwei Jahre hier' und dann plötzlich gehen sie nicht mehr weg. Sie fühlen sich wohl und wissen gar nicht warum. Ja, und dann gibt es welche, die fragen mich: 'Wie kann man eigentlich schreiben, wenn man in so einer Siedlung wohnt?' Die begreifen gar nicht, daß man erst wirklich schreiben kann, wenn man in so einer Siedlung wohnt. Zwischen Arbeitern, wenn man mit ihnen verwachsen ist. Manchmal sind diese Menschen ja auch stumm. Sie können sich nicht verständlich machen. Vielleicht mach ich sie verständlich, ich weiß es nicht. Ich weiß auch nicht, ob es gut ist, was ich schreibe oder schlecht, aber ich bin felsenfest davon überzeugt, daß es notwendig ist."
Max von der Grün
Max von der Grün

"ich muß etwas bewirken"
Notstand
Notstand
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"Sind Sie Arbeiter?"
"Zigarrette?"
Gesang: "Oh, Arbeiter, reich uns die Hand, es geht um die gute Sache. Laßt uns, laßt uns Freunde sein, Arbeiter und Intellektuelle. Es soll, es soll beschworen sein, das Bündnis, das Bündnis der Arbeiter und Intellektuellen."

"Die Idee der proletarischen Revolution war zuerst, die wollte ich miterleben, und wollte mich, sag ich mal, dran hochziehen. Ich wollte Teil davon sein. Und die 'Bottroper Protokolle' waren ein Nebenergebnis."

Runge (Archiv): "Ich bin ins Ruhrgebiet gefahren, zu einer Zeit, als dort die Krise am ausgeprägtesten war. Ich war einfach neugierig, ich wollte wissen, was geschieht in den Köpfen der Leute, wenn sie ökonomisch und persönlich sich in einer so schwierigen Situation befinden. Und ich habe die Leute gefragt, die verschiedenen Bergarbeiter, deren Frauen, die Bewohner der Stadt, die von solch einer Zeche abhängig ist. Und ich hab festgestellt, daß eigentlich jeder einzelne im Stande ist, Literatur zu produzieren, also ich habe nur als Katalysator gewirkt und ihnen die Literatur abverlangt."
Erika Runge
Erika Runge

Bottroper Protokolle

Botropper Protokolle: "Und wegen Rheinbaben, die sind alle so am Sagen: 'Dat wird noch wat geben, dat wird noch wat geben!' Ja, dat wird noch wat geben, dat steht fest. Aber wat soll man dagegen tun? Wir Armen könn ja auch nichts dagegen tun, daß die Zeche stillgelegt wird. Heute Mittag, wo ich einkaufen gegangen bin, da sagte mir die Geschäftsfrau auch: 'Mein Gott', sagt se, 'wat wird dat noch geben?'"

...
"'Ja', sagt sie, 'ich versteh das nicht. Und jetzt überhaupt noch, wenn sie Rheinbaben stillegen, dann wer ich überhaupt nichts mehr los, dann könn wir unser Geschäft bald schließen'. Da sagt ich auch: 'Kann ich nichts dafür. Ich kauf nur dat ein, was ich ganz nötig brauche und wat die Kinder brauchen, dat andre kann ich mir auch nicht mehr leisten.'"

Runge: "Links war ja gängig, war Erfolgskonzept, -rezept, und wer was auf sich hielt, förderte das, und ich konnte mich vor Aufträgen kaum retten. Ein Fernsehredakteur hat gesagt: 'Machen Sie doch was aus diesen 'Bottroper Protokollen', was Dokumentarisches.' Dann habe ich einen Dokumentarfilm über die Maria B., Putzfrau, Witwe eines Bergmanns, gedreht, und sie hat erzählt, aus ihrem Leben.
Die Frage ob wir als damals linke, engagierte Filmemacher das Proletariat, als so 'ne Art zoologische Gattung gesehen haben ... Glaub ich nicht, glaub ich nicht. Es gab im Gegenteil eine, fast Verehrungshaltung der Linken gegenüber dieser als riesig angenommenen Arbeiterkasse."
Runge (Archiv): "Wir wollen mehr Nachrichten aus der Arbeitswelt, wir wollen nicht mehr die Literatur als etwas Schönes, die mit der Realität der breiten Bevölkerung nichts zu tun hat. Ja, eigentlich leben wir in bezug auf Literatur wie in einer Sklavenhaltergesellschaft."

Safranski: "Das ist etwas, das führt in dieses heikle Spannungsverhältnis zwischen Gerechtigkeit und Schönheit hinein. Also, es gibt von Hofmannthal ein schönes Gedicht, da heißt es: Manche stehen oben auf dem Schiff, die sehen den Vogelflug und sehen die Wolken, bemerken die Fahrt, bemerken die Schönheit, und unten, die Rudernden, die können nicht gucken."

Manche freilich...
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Manche freilich müssen drunten sterben,
Wo die schweren Ruder der Schiffe streifen,
Andre wohnen bei dem Steuer droben,
Kennen Vogelflug und die Länder der Sterne.
Hugo von Hofmannsthal, 1895

Safranski: "Dieses Verhältnis zwischen den Rudernden und denen, die oben stehen und die Schönheit genießen können, das ist ein Spannungsverhältnis, das in der Kultur drinnen ist. Und die 68er Bewegung, neben vielem, was sie sonst noch war, hat dieses Problem auch aufgegriffen, und die Antwort gegeben, wir waren ja alle Intellektuelle, waren ja in der Hauptsache aus dem intellektuellen Milieu, die dann aus dieser Erfahrung heraus eine Art Selbstmarginalisierung betrieben. Dann haben hochbegabte Leute, haben auf einmal versucht zu schreiben, Flugblätter zu schreiben, haben dann auf einmal ihren Proust beiseite gelegt und haben, aus diesem Gefühl heraus, das alles ist Luxus und jetzt muß man aber doch im Namen der sozialen Gerechtigkeit, muß man sich doch um ganz andere Dinge kümmern."


Literaturwerkstatt

Hier trifft sich der Werkkreis Literatur der Arbeitswelt. Gelsenkirchen 1970. Draußen Lesung, drinnen Schulung. Günter Wallraff gibt schreibenden Arbeitern die Richtung vor. Sie sollen keine Literatur machen. Sie sollen sich die Literatur unterwerfen.

Walraff: "Was wir wollen, ist nicht Literatur als solche, sondern Wirklichkeit. Die Wirklichkeit hat noch immer die größere und durchschlagendere Aussagekraft, ist für die Mehrheit der Bevölkerung erkennbarer, nachvollziehbarer, und führt eher zu Konsequenzen als die Phantasie des Dichters." Günther Walraff
Günther Walraff

Keine Kunst. Wirklichkeit. Kunst ist wertlos. Schönheit eine Agentin der Bourgeoisie.

Der hier ist sicher kein Proletarier. Tut aber sehr proletarisch.

Werkkreis Literatur "Was gut geschrieben ist, bestimmt bisher noch allemal die bürgerliche Literatur, die Vertreter der bürgerlichen Literatur. Die bürgerliche Ästhetik sagt: Gut und Schön, Häßlich und Böse. Darauf werden wir festgelegt. Was ist das Gute und Schöne, das Böse und Häßliche in der bürgerlichen Literatur? Das sind die Interessen der Bourgeoisie."

"Auf der welthistorischen Bühne hat das ja dann in den Real-Existierenden- Sozialismus-Ländern auch wirklich zu einer kulturfeindlichen Politik geführt. Also insofern, was wir auf der Spielwiese gemacht haben, realhistorisch ist das durchexerziert worden. Also die Zerstörung von Kultur, um eine 'gerechte' soziale Ordnung aufzubauen, bis hin zu den Roten Khmer. Eine Bauerngesellschaft wieder zu installieren, wo alle ungefähr gleich sind, und die Kultur, wie es dann auch hieß: den Überbau, zu zerstören." Rüdiger Safranski
Rüdiger Safranski

"Peinlich schlecht!"

Tempel in Kambodscha

In einem Tempel in Kambodscha nach dem Abzug der Roten Khmer. Jeder dritte Kambodschaner fiel der Partei, die nur das Beste wollte, zum Opfer. Die Zerstörung des kulturellen Überbaus führt von Gelsenkirchen, Literatur der Arbeitswelt, nach Phnom Penh, zu Pol Pot. Kühner Schluß.

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